14. September 1989
"Go West" vor 15 Jahren

Zum 15jährigen Jubiläums meines Wessi-Daseins möchte ich euch eine lustige und für mich damals sehr einprägsame Geschichte nicht länger vorenthalten. Diese Geschichte handelt sich um vorzugsweise meinen Weg in den Westen. Ich möchte schildern, wie ich dies alles damals erlebt habe und wie sich die Wende und auch der Umzug für mich gestaltet haben. Mich bewegen diese Momente, wenn ich an sie zurückdenke, noch heute fast zu tränen.

Damals, ich war vielleicht 8 oder 9 Jahre jung, da haben mir meine Eltern etwas versprochen. Ich hatte mir schon immer gewünscht, in den Westen zu kommen. Nicht nur, weil ich wusste, dass man dort vielleicht meine Augen wieder gesund machen könnte, sondern auch weil ich gerne Palmen und blaues Meer sehen würde, wie man es von Postkarten oder Träumen her kennt (damals wohl eher Träume oder Poster oder Fernsehwerbung anstatt Postkarten...). So versprachen mir meine Eltern bei einer solchen Gelegenheit, dass ich Palmen sehen könnte, wenn ich ein bestimmtes Alter erreichen würde. Damals war dieses Versprechen für mich kaum fassbar. Doch ich behielt es in Gedanken und ging weiter brav zur Schule und in's Internat (*würg*).

Im Sommer 1989 war dann das Schuljahr vorbei und die Klasse verabschiedete sich bis zum neuen Schuljahr, das nach 8 Wochen Ferien wieder beginnen sollte. Wir wussten, dass nicht alle Schüler mehr dabei sein würden im neuen Jahr , und das war nicht einfach hinzunehmen, da ich diese zwei sicher vermissen würde. Als ich dann heim kam änderte sich jedoch alles schlagartig. Meine Eltern offenbarten mir nun, dass auch ich das neue Schuljahr nicht mehr mit meinen alten Schulkameraden, sondern woanders beginnen sollte.

Zu dieser Zeit war die politische Situation wohl schon sehr angespannt. Ich erinnere mich an Montagsdemonstrationen, bei denen ich so gerne mitgemacht hätte, weil die Stimmung dort einfach richtig faszinierend auf mich wirkte. Doch verständlicherweise war ich dafür zu jung, und bis Leipzig war es auch ein Stückchen. Jedenfalls hatten meine Eltern die Gelegenheit genutzt und einen weiteren Ausreiseantrag gestellt. Sie waren ja angeblich immer so lange einkaufen bis spät in den Abend, doch dann wurde mir erklärt, dass dies immer der Versuch war, den Ausreiseantrag ein Stückchen voranzubringen.

Damals hatten meine Eltern auch einmal versucht, dass einer von ihnen mit mir in den Westen kommen sollte, um meine Augen ordentlich behandeln zu lassen. Doch da sagte man etwas von "Fluchtgefahr", und so wurden alle Versuche unterbunden, mir eine Behandlung im Westen zu ermöglichen. Vielleicht wäre es dann nicht so schlimm um meine Augen heute...?!

Nun, jedenfalls war dann bald der August gekommen. Irgendwo war ich natürlich sehr traurig, dass ich zum Beispiel unseren Wellensittich zurücklassen musste, der uns allen so sehr ans Herz gewachsen war. Er ging in die Obhut der Familie in Dresden und wir kümmerten uns fortan um's Kofferpacken. Koffer wurden gekauft und gepackt, Behördengänge wurden dank einer mitgebrachten Knollenfahne rasch erledigt und bald stand der Termin fest, auf den man so sehnsüchtig gewartet hatte. Knapp, sehr knapp vor dem eigentlichen Ausreisetermin erfuhren meine Eltern, dass wir einen Zug am Mittag des 14. September 1989 nehmen mussten, der nach Gießen fuhr. So verabschiedeten wir uns von der Familie und machten uns auf den Weg. Am Bahndamm in Gotha winkten wir noch meiner Tante und meinem Onkel, die einen Zug nach uns die gleiche Strecke fahren sollten.

Diese Zugfahrt war wohl die spannendste, aber auch schönste Zugfahrt, die ich so erlebt habe. Am Grenzübergang wurde alles sorgfältig kontrolliert und es herrschte eine Stille im Zug, bei der man eine Stecknadel im Nachbarabteil hätte fallen hören können. Später ging es dann weiter, vorbei an Dörfern und durch Städte. "Hier sind ja alles West-Autos!!!" staunte ich lautstark... aber ich war ja im Westen, oder nicht?! Dies fiel mir auch erst dann auf, da ich ja schließlich im Westen war...

Ein älterer Mann machte dann einen Deal mit mir. Ich schenkte ihm fünf Ossi-Mark und er mir fünf Wessi-Mark. Nun hatte ich mehr Geld als meine Eltern! Und es kam noch besser: In meinem kindlichen Erstaunen über dieses Abenteuer und voller Euphorie überlegte ich dann und entsann mich an Szenen, die ich im Fernsehen aus Gießen gesehen hatte, wohin wir ja unterwegs waren: "Mutti, die schmeißen uns bestimmt Bananen zu!" Natürlich lachte alles.

Als wir dann in Gießen ankamen stieg ich voller Begeisterung und Erwartungen aus dem Zug aus... und als ich dann auf dem Gleis stand muss ich wohl Stielaugen bekommen haben beim Anblick eines... ja, eines riesigen Obstladens direkt gegenüber dem Gleis! Ich glaube, das war bis dahin der schönste Anblick, den ich tief in mich aufnahm und wirken ließ. Bananen! Pfirsiche! Nektarinen und Früchte, von denen ich bis dahin nur gehört oder geträumt oder gar nichts gewusst hatte... und dann kam jemand auf mich zu. Er hielt eine große Papiertüte in der Hand und lächelte mich an. "Das schenke ich Dir." - Ich war so platt... ich habe den Mann einfach nur angestiert und das erst mal verstehen müssen, was da um mich rum geschah. Doch dann sagte ich erfreut zu meinen Eltern: "Siehst Du, Mutti! Uns werden doch die Bananen hinterhergeschmissen!"

Die ersten Nächte im "neuen Leben" waren unruhig. Wir schliefen in einem Militärkrankenhaus in Gießen, in einem Übergangslager. Meine Tante und mein Onkel waren einen Zug später gekommen und wir hatten dafür gesorgt, dass wir uns ein Zimmer teilen konnten. Die drei Tage und zwei Nächte im Übergangslager waren nicht einfach und es gab immer wieder neue Eindrücke für mich, doch überfressen habe ich mich wohl wirklich nur an Bananen, die mir nach einem halben Jahr so zum Hals raushingen, dass ich Ewigkeiten keine mehr angerührt hatte.

Und als ich dann wenige Jahre später mit meinen Eltern das erste Mal in ein Flugzeug stieg und als wir dann im ersten großen Urlaub waren, auf Mallorca, da erinnerte mich, dass mir meine Eltern einst versprochen hatten, dass ich in diesem Lebensjahr unter Palmen sein würde...

Heute habe ich schon viele Palmen gesehen. Weiße Sandstrände und türkisfarbenes Meer. Viele verschiedene Kulturen und Menschen, viele Abenteuer und dies alles begann am 14. September 1989, ein Tag, den ich wohl niemals vergessen werde.